Künftig sollen auf dieser Strecke Expresszüge mit mehr als zweihundert Sachen bergauf donnern, doch einstweilen bahnt sich ein über 2000 Tonnen schweres Monstrum mühsam diesen Weg durch den Berg. Der Bosslertunnel ist Teil des im Zuge des Bahnprojekts Stuttgart-Ulm notwendig gewordenen Albaufstiegs
Nach der Inspektion der Baustelle des Tunnels Obertürkheim im Stuttgarter Stadtgebiet bot sich am gleichen Tag noch die Gelegenheit, das völlig andere Vortriebsverfahren eines der Albaufstiegstunnel des Megaprojekts kennenzulernen. Die zweite Röhre des künftig 8.806 Meter langen Boßlertunnels, die im April 2018 bereits kurz vor dem Durchschlag steht, wird mit einer Tunnelvortriebsmaschine durch den Berg getrieben – oder, wie die Mineure sagen, „aufgefahren“. Er gehört als Teil der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm in einen völlig anderen Bauabschnitt und beginnt am Aichelberg auf Höhe des Städtchens Weilheim an der Teck in rund 40 Kilometern Entfernung vom Stuttgarter Hauptbahnhof.
Zusammen mit dem sich nach der knapp 500 Meter langen Filstalbrücke unmittelbar anschließenden 4.847 Meter langen Steinbühltunnel bewältigt der Boßlertunnel eine Höhendifferenz von 213 (+ 105) Metern und unterfährt damit die Abbruchkante der Schwäbischen Alb. Auf dem Weg nach Ulm werden die Züge allerdings, nachdem sie kurz vor Ende des Steinbühltunnels den auf einer Höhe von 746 Meter über NN gelegenen höchsten Punkt der Strecke passiert haben, noch weitere fünfmal mehr oder weniger lang unter die Erdoberfläche abtauchen. Denn es gilt noch den Widderstalltunnel (963 Meter), den Merklinger Tunnel (394 Meter), den Ambergtunnel (499 Meter) und den Albabstiegstunnel mit 5.940 Metern Länge zu durchfahren, die inzwischen alle im Rohbau fertiggestellt sind.
Doch auch bevor die Expresszüge der Bahn vom Hauptbahnhof kommend mit bis zu 250 Kilometern in der Stunde das Tunnelportal am Aichelberg erreichen, haben sie schon mehrere Tunnel hinter sich gelassen. Nach Ausfahrt aus dem neuen Hauptbahnhof durchfahren sie erst den noch zum Bauabschnitt Stuttgart gehörenden 9.468 Meter langen Fildertunnel und nehmen dann im 8.176 Meter langen Albvorlandtunnel richtig Fahrt auf. Statt der heute benötigten 54 Minuten soll die Relation Stuttgart-Ulm auf der neuen Strecke künftig nur noch 31 Minuten in Anspruch nehmen.
Eine Kraft, der nichts widersteht
Bevor es allerdings so weit ist, geht es mit täglichen 20 bis 30 Metern eher gemächlich durch den Berg. Für Tunnelvortriebsmaschinen wie die S-833 des Spezialisten Herrenknecht ist das allerdings immer noch erstaunlich schnell. Als wir unter Begleitung des hier zuständigen Bauleiters Olaf Berlig nach holpriger Fahrt mit der Grubenbahn im Bauch des 2.480 Tonnen schweren Monstrums ankommen, hat die beinahe halbstündige Expedition durch einen perfekt geformten Stollen schon einen Vorgeschmack dessen vermittelt, was es an seinem einstweiligen Ende zu sehen gibt. Die Maschine spuckt hinter sich einen fertigen und mit allen Befestigungspunkten für die spätere Streckeninstallation versehenen Tunnel aus.
Der Weg durch die Eingeweide der 110 Meter langen Maschine bis zur Ortsbrust, wo das gigantische 11,39 Meter durchmessende Schneidrad das Gebirge in gerade einmal faustgroße Stücke zermahlt, gleicht allerdings dem Vortasten durch ein gigantisches Labyrinth. Zahllose Treppen hinauf und wieder hinab führen vorbei an der Sicherheitskammer, dem Maschinensteuerstand und einer Anlage, deren Aufgabe es ist, Beton hinter den jeweils letzten Ring der Tunnelverkleidung zu pressen. Das untere Stockwerk des Monsters gehört unterdessen weitenteils der Grubenbahn, die jeweils auf drei Schwerlastwaggons die nächsten Teile für die Tunnelverkleidung, die sogenannten Tübbinge, liefert. Nach einer gefühlten Ewigkeit und einer beinahe bis ins Unerträgliche gestiegenen Spannung, ist mit dem Erreichen der Rückseite des Schneidrads das vordere Ende der Maschine erreicht. Hier spürt man das Beben des Monsters bei seiner Arbeit. Von 14 E-Motoren mit einer Leistung von insgesamt 8.000 kW/10.800 PS in Rotation versetzt, fällt das von seinen Rollmeißeln zertrümmerte Gestein unsichtbar durch dafür vorgesehene Öffnungen und sammelt sich in einem tief gelegenen Trog, von wo es über eine gigantische Transportschnecke in die Höhe geschraubt wird und anschließend auf ein Transportband fällt. Von hier tritt der Abraum neben der Grubenbahn den Weg zum Eingang des Tunnels an die Oberfläche an.
Vortrieb im Eineinhalb-Meter-Takt
Hat sich das Schneidrad die nächsten rund eineinhalb Meter durch den Berg vor ihm gearbeitet, hält die mächtige Maschine inne. Nun schlägt die Stunde eines überaus leistungsstarken Hubmechanismus, der den ersten der Tübbinge von seinem Transportwagen hebt. Insgesamt sieben der mehrere Tonnen schweren Stahlbetonteile bilden jeweils einen neuen Tunnelring und müssen nach einem vorher erstellten Plan an einer ganz bestimmte Stelle der Tunnelwand angebracht werden. Aufs Genaueste von der Hubeinrichtung positioniert, werden sie zunächst mittels gigantischer Schrauben an den jeweils letzten installierten Ring der Tunnelwand angeschraubt. Erst wenn, wie beim Mauern eines Gewölbes, alle sieben Kreissegmente zum nächsten Ring zusammengefügt sind, verfügt der über eine hinreichende Festigkeit. Was zur endgültigen Fertigstellung dieser neuen eineinhalb Meter Tunnel fehlt, ist allerdings noch die kraftschlüssige Verfüllung des Hohlraums, der zwischen diesem Ring und der von der Maschine in den Fels geschnittenen Bohrung verbleibt. Dieser Hohlraum wird mit Hochleistungsbeton gefüllt. Das ist aber erst möglich, wenn bereits der nächste Tunnelring montiert worden ist.
60.000-Teile-Puzzle unter Tage
Doch bereits unmittelbar nach dem Einbau des letzten Tübbings kommt dem gerade fertiggestellten Ring eine wichtige Aufgabe zu: Er dient dem Schneidrad der Maschine als Widerlager, um sich mit ihren Hydraulikzylindern erneut dem vor ihr liegenden Gebirge in Fortführung der Tunnelbohrung entgegenzupressen. Diese Art der Fortbewegung kennt demnach nur eine Richtung: Immer vorwärts in Richtung des vorbestimmten Ende des Tunnels. Den gesamten rund hundert Meter langen Nachläufer zieht der Kopf der Maschine, während er sich weiter durch das Gestein arbeitet, hinter sich her.
Kaum mehr als eine Stunde dauert es übrigens, bis sich der soeben beschriebene Ablauf erneut wiederholt. Bei rund halbstündiger Fahrt bleibt für die Grubenbahn also nicht allzu viel Zeit, die Tübbinge für den nächsten Ring zu liefern. Rund 30.800 dieser Betonfertigteile wird die etwa 29 Millionen Euro teure Maschine bei einer Fahrt unter dem Boßler hindurch zu 4.400 Tunnelringen zusammengefügt haben.
Die auf den Namen Kätchen getaufte S-833 durchfährt die Strecke mittlerweile zum zweiten Mal. Vom April 2015 bis zum November 2016 hatte sie weniger Meter weiter östlich die Strecke unter dem Boßler hindurch das erste Mal hinter sich gelassen und war zum Dank am Ende ihres Weges zerlegt und in Einzelteilen durch den Tunnel zurück an den Ausgangspunkt der Reise transportiert worden. Dort wurde sie wieder zusammengebaut und fitgemacht für die im April 2017 begonnene Auffahrt der zweiten Röhre.
Ursprünglich hatte man den Einsatz des Monstrums hier gar nicht erwogen. Auf einem Großteil der zurückzulegenden Strecke unterquert der Tunnel nämlich Gesteinsschichten des Braunjuras. Und deren zu erwartende Festigkeiten wurden nach ersten Voruntersuchungen als sehr gering eingestuft. In Verbindung mit einer bis zu 280 Meter mächtigen Gesteinsüberlagerung war also mit druckhaftem Gebirge zu rechnen, womit ein Maschinenvortrieb nicht in Frage kam. Nachdem sich dann allerdings das Deckgebirge als sehr viel solider herausgestellt hatte, entschied man sich schließlich doch für einen Maschinenvortrieb.
Im Verlauf der Neubaustrecke Stuttgart-Ulm liegen die Tunnelbauer übrigens gut in der Zeit. Vor kurzem haben sie mit dem Albvorlandtunnel und zwei Tunnelvortriebsmaschinen die Auffahrt des letzten noch fehlenden Stollens begonnen.