Im größten russischen Wasserkraftwerk Sayano-Shushenskaya in Südsibirien führt eine über Jahre eingeübte Abstumpfung gegen den unruhigen Lauf eines der Hauptaggregate geradewegs in die Katastrophe
Es ist fast schon eine filmreife Szene: Am Morgen des 17. August 2009 feiert Nikolai Nevolko sein 17-jähriges Dienstjubiläum als Direktor des größten Wasserkraftwerks Russlands. Mit einer Gesamtleistung von 6721 MW rangiert die riesige Anlage zu diesem Zeitpunkt auf Platz vier der weltweit leistungsfähigsten Wasserkrafterke. Es stellt sich dem Jenissej in den Weg, dem größte Strom Sibiriens und einem der wasserreichsten dieser Erde. Das aufgestaute Wasserreservoir liegt bei 31,3 Milliarden Kubikmetern; der Stausee erstreckt sich über die unfassbare Länge von 320 Kilometern durch Südsibirien und ist stellenweise mehr als 10 km breit sowie bis zu 113 m tief.
Während Nevolko die ersten Gäste auf das Kraftwerksgelände fahren sieht, denkt er noch einmal verärgert an den Brief den er tags zuvor von RUSAL bekam: Das Aluminium-Werk Sayanogorsk wird nur eine Abordnung aus der zweiten Garde schicken; das Topmanagement hat andere Sorgen. RUSAL, größter russischer Aluminium-Produzent und bereits auf Platz zwei im weltweiten Ranking, steht kurz vor der Übernahme des kleineren Konkurrenten SUAL, der aber auf riesigen Bauxit-Reserven sitzt – dem wichtigsten Rohstoff bei der Aluminium-Herstellung. Die Übernahme soll die ständigen Liefer-Engpässe beenden helfen, denn – und deswegen laufen die beiden Kraftwerke Krasnojarsk und Sayano-Shushenskaya seit Monaten knapp unterhalb der Belastungsgrenze – die Aluminium-Produktion läuft in diesem Jahr auf Hochtouren. Am 2. Juli meldet RusHydro, Eigentümer des Kraftwerks, die höchste bislang erreichte Leistungsabgabe.
Eine heiße Nacht in Sibirien
Als Nevolko seine ersten Gäste begrüßt, trotten noch die letzten Leute der Nachtschicht aus dem Kontrollraum. Die Übergabe an die Frühschicht hat heute ungewöhnlich lange gedauert; sie sind müde. Oleg Myakishev bleibt auf der Treppe vom Besprechungsraum hinunter zur Ebene 1 der Maschinenhalle einen Moment stehen und schaut sich das Treiben an. Die Nacht war aufreibend. Ständig Probleme mit Nummer Zwei. Nummer Zwei, das ist eines der zehn Aggregate des Kraftwerks, jedes mit einer Maximal-Leistung von 640 Megawatt. Doch Nummer Zwei ist etwas Besonderes: Sie ist das Sorgenkind des Kraftwerks.
Erst Anfangs des Jahres war der Maschinensatz einer turnusmäßigen Revision unterzogen worden. Risse in den Turbinenschaufeln wurden geschweisst und Dichtungen ersetzt. Als einzige Turbine des Kraftwerks verfügt Nummer Zwei seitdem über ein modernes elektro-hydraulisches Regelsystem. Dennoch hatte all dies keine wirkliche Verbesserung gebracht: Mehr denn je ging der Lauf unter Volllast bei Nummer Zwei mit merklichen Vibrationen einher.
Im Grunde hatten die Probleme mit dem 1979 in Betrieb genommenen Maschinensatz schon nach einem Jahr begonnen. Bereits nach kurzer Laufzeit traten damals kleinere Lecks bei den Dichtungen auf, wurden Vibrationen an der gigantischen Welle festgestellt, die die Turbine tief unten im Keller mit dem Rotor des Generators verbindet. Zwar lagen sie innerhalb der Grenzwerte, waren aber dennoch beträchtlich stärker als bei allen anderen Turbinen. Als im Sommer 2000 an dem Maschinensatz eine umfassende Grundrevision durchgeführt wurde, stellte man am Läufer der Turbine Hohlräume mit Durchmessern bis zu zwölf Millimetern und Risse bis zu einer Länge von 130 Millimetern fest! Nach dieser großen Revision wieder angefahren, machten die mittlerweile hinlänglich bekannten Probleme jedoch nach nur fünf Jahren eine erneute Reparatur nötig. Die Ingenieure registrierten die gleichen Symptome: Zerschlissene Dichtungen und einen unruhigen Lauf. Bei Volllast lag die Amplitude der Vibrationen nun bei 0,15 Millimetern am Hauptlager!
Ohnmächtige Abstumpfung – Alarmsignale werden ignoriert
Seit Jahren an das Vibrieren des Fundaments im direkten Umfeld des Sorgenkinds des Kraftwerks gewöhnt, scherte sich niemand darum, dass nach der letzten, erst wenige Monate zurückliegenden Revision im Frühjahr die Stärke der Schwingung nun nochmals merklich zugenommen hatte. War das auf das unterlassene Auswuchten des riesigen Läufers nach der letzten Reparatur zurückzuführen? Seit dem Juli dieses Jahres hatte die Schwingungsamplitude von Nummer Zwei jedenfalls so weit zugenommen, dass sie nunmehr über dem zulässigen Grenzwert lag. Deswegen hatte man die Zwei nochmals gestoppt, um der Ursache für den zunehmend unruhigen Lauf des Aggregats auf den Grund zu gehen. Doch da bereits Maschine Sechs für eine Revision gestoppt war und das Aluminiumwerk Sayan dringend auf die Leistung angewiesen war, fuhr man die Zwei nach einer oberflächlichen Inspektion, die kein Ergebnis gebracht hatte, wieder an. Die Techniker registrierten seither ein derart hohes Vibrations-Niveau, dass sogar die seismischen Messinstrumente der Erdbeben-Warnstation des Kraftwerks darauf ansprachen.
Das Aggregat gerät außer Kontrolle
Bei Erreichen einer Schwingungs-Ampitude von haarsträubenden 0,84 Millimetern jedoch versucht das Personal in der Nacht vom 16. auf den 17. August erneut, die Turbine herunter zu fahren. Das Aggregat, für das der Hersteller eine Lebensdauer von 30 Jahren angibt, hat zu diesem Zeitpunkt 29 Jahre und zehn Monate auf dem Buckel. Doch Nummer Zwei reagiert in dieser Nacht nicht auf die Versuche, des Personals, dem Ritt ein Ende zu machen. In dieser Nacht arbeiten die neun in Betrieb befindlichen Turbinen des Kraftwerks gegen eine Wassersäule von 212 Metern an; ein Betriebszustand, für den eine Leistungsabgabe von 570 – 640 MW (Vollast) vorgeschrieben ist. Diese enorme Leistungsentnahme hilft, den Läufer der Turbine im erlaubten Drehzahlbereich zu halten. Ohne die Bremswirkung des Generators würde der Läufer bei gleichbleibender Druckbeaufschlagung sonst immer weiter beschleunigen.
Um eine Turbine herunter zu fahren sind zwei Dinge notwendig: Die Leistungsabgabe muss gedrosselt und die rund um den Läufer angebrachten, jeweils 150 Tonnen schweren Stahltore müssen hydraulisch geschlossen werden. Die automatische Regelung von Nummer Zwei versucht das in dieser Nacht mehrfach: um ca. 20.30 Ortszeit liegt die Leistungsabgabe von Turbine Zwei noch bei 600 Megawatt, danach wird sie auf ca. 200 Megawatt heruntergefahren. Um 03.00 Nachts liegt sie wieder bei 600 MW, kurz darauf ein erneutes herunterfahren auf 200 MW. Eine Dreiviertelstunde später läuft die Maschine wieder auf Vollast.
Dem Untergang geweiht
Direktor Nevolko ahnt von all dem nichts, als er seinen Gästen bedeutet, genau hier bei Generator Zwei Aufstellung zu nehmen. Das übliche Ritual würde nun einmal mehr seinen Lauf nehmen: Lobeshymnen auf den Direktor und das Kraftwerk von allen Seiten. Irgendwie noch immer so wie zur Zeit des Kommunismus. Diejenigen unter den Gästen, die in zweiter und dritter Reihe stehen, verlieren sich in Gedanken an dies und das, an den letzten Urlaub am Schwarzmeer, auf die bevorstehende Hochzeit der Tochter…
Das Unglück nimmt seinen Lauf
Doch urplötzlich, der Minutenzeiger der großen Uhr in der Maschinenhalle ist gerade auf 8.13 gesprungen, reißt die Gäste der Jubiläumsfeier ein ohrenbetäubendes Krachen augenblicklich ins Hier und Jetzt zurück. Gerade eben hat das Steuersystem einmal mehr die Leistungsabgabe des Generators heruntergeregelt. Das Aggregat quittiert das wie üblich zunächst mit einer Zunahme der Drehzahl. Doch dieses mal ist es für die aus mannshohen Trägern bestehende gewaltige Zentrierspinne, die das obere Hauptlager des mächtigen Rotors exakt in Position hält, zu viel:
Die Vibration der Welle von Nummer Zwei hat die Verschraubung des tief im Fundament verborgenen Turbinengehäuses derart mürbe gemacht, das sie jeglichen Halt verliert. Von einem gigantischen Wasserdruck von mehr als 20 bar emporgehoben sprengt die Kombi von Turbine und Läufer die Abdeckungen und die Zentrierspinne weg und schraubt sich im vollen Lauf in die Höhe. Seiner Führung beraubt beginnt das 920 Tonnen schwere Teil sogleich, wie ein Spielzeugkreisel, der an Schwung verliert, mit einer unkontrollierten Taumelbewegung und häkselt alles, was sich in seiner unmittelbaren Umgebung befindet, kurz und klein. Das gigantische Teil kommt am Ende in einem riesigen Krater zu liegen, dessen Durchmesser mehr als doppelt so groß ist, wie der reguläre Trog für den Generator in dem meterdicken Betonfundament eigentlich sein müsste.
Ein Logenplatz bei der Katastrophe
Oleg Myakishev von der Nachtschicht traut seinen Augen nicht: „…ich stand auf der Treppe als ein stark anschwellendes Geräusch hörte. Als ich in die Richtung blickte, aus der das Geräusch kam, sah ich, wie sich bei Nummer Zwei die geriffelten Abdeckplatten anhoben. Anschließen wurde der gewaltige Rotor in die Höhe geschleudert. Er drehte sich noch mit hoher Geschwindigkeit und krachte gegen die Decke. Kurz darauf flogen Betonbrochen und riesige Trümmerteile umher und ich musste in Deckung gehen.“
Aus dem Trog, indem kurz zuvor noch Maschine Zwei rotierte, schießt mit ungeheurer Wucht Wasser in die Halle, die Sekunden später völlig unter Wasser steht. Kurz darauf dann eine zweite Explosion: Das Wasser in der Halle verursacht einen kapitalen Kurzschluss. Einer der beiden Haupttransformatoren explodiert. Im Kontrollraum gewärtigen die Techniker einen Abfall der elektrischen Leistung auf Null: Black Out.
Bittere Rache schwerwiegender Konstruktionsfehler
Geistesgegenwärtig eilen derweil Techniker zu den Ventilen für den hydraulischen Schließmechanismus für die Wasserzufuhr der Turbinen. Diese werden nämlich, und das erweist sich in diesem Moment als fatal, normalerweise elektrisch betätigt. Doch weil der Strom ausgefallen ist, müssen sie manuell betätigt werden. Zwischen 8:35 Uhr und 9:20 Uhr gelingt es, sukzessive alle Drucktore zu schließen. Den für einen solchen Fall vorgesehenen Diesel-Notstromgenerator bringt man erst um 11:32 Uhr zum Laufen. Doch da ist es für weitere zwei Maschinen bereits zu spät: Die Turbinen Sieben und Neun geraten durch den plötzlichen Lastabfall ebenfalls außer Kontrolle und werden aufgrund überhöhter Drehzahl völlig zerstört.
Sergey Peregerya aus Minusinskiy Rayon schildert, wie seine Frau ihn mit den Worten weckte: „Das Kraftwerk ist explodiert – in dreißig Minuten ist die Flutwelle bei uns.“ In Windeseile angezogen sieht er auf der Straße Leute in panischer Angst. Viele versuchen mit ihren Kindern möglichst schnell auf höher gelegenes Gelände zu kommen. Die Situation ist mehr als real: Das Stromnetz ist zusammengebrochen; ein Umstand, der das Schlimmste befürchten lässt. Auch wenn das Schlimmste ausbleibt; es dauert zwei volle Tage, bis die vom Black Out betroffenen Gebiete wieder mit Strom versorgt werden können.
Die große Aluminium-Schmelze in Sayanogorsk, zu rund 70 Prozent Hauptabnehmer der Energieproduktion des Kraftwerkes, startete zunächst umgehend die werkseigenen Dieselgeneratoren, muss kurz darauf aber die Produktion drosseln bzw. zeitweise auch ganz einstellen. Später konnte ein Teil der Energieproduktion der Wasserkraftwerke Krasnojarsk und Novosibirsk sowie des ebenfalls dort gelegenen Geothermiekraftwerks in die Region umgeleitet werden.
Eine Untersuchungskommission und ihr Bericht
Die tragischen Ereignisse im Süden Sibiriens führten zum ersten mal in der neueren russischen Geschichte zur Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchung, für die erst im Jahre 2005 die gesetzliche Grundlage geschaffen worden war. Am 4. Oktober 2009 wurde der offizielle Bericht über den Unfall am Kraftwerk Sayano-Shushenskaya veröffentlicht. Als Hauptursache für das Unglück benennt er die Vibrationen von Turbine 2, die zunächst zu deren Crash und in weiterer Verkettung zum Wassereinbruch, Abfall der Grundlast durch die Explosion des Haupttransformators und daraufhin zu weiteren Turbinen-Crashes geführt hätten.
Doch die Untersuchung förderte weitere haarsträubende Fakten zu Tage: Denn sechs der insgesamt achtzig riesigen Muttern, die den Deckel des tief unten gelegenen Turbinengehäuses geschlossen halten und damit im Fundament verankern, fehlten bei Turbine Zwei. Schlimmer noch: Von den 49 Schrauben und Muttern, die während der Aufräumarbeiten gefunden wurden, hatten 41 so gut wie kein Gewinde mehr; bei den übrigen acht konstatierten die Sachverständigen nur noch eine Haltefähigkeit von 15 Prozent.
Weiterhin führt der Bericht an, dass Mitarbeiter des russischen Rechnungshofes bei einer Kontrolle zwei Jahre zuvor festgestellt hätten, dass 85 Prozent der technischen Ausrüstung des zwischen 1963 und 1988 erbauten Kraftwerks dringend modernisiert werden müssten, da sie offenbar hoffnungslos veraltet seien.
Die Katastrophe und die Folgen
Das Unglück am Kraftwerk Sayano-Shushenskaya riss 74 Menschen aus dem Leben; eine Frau gilt als vermisst. Außerdem führte die Explosion des Transformators zu einer Freisetzung von 40 Tonnen Transformatoren-Öl, dass den Jenissej eine Strecke von 80 Kilometern flussabwärts verseuchte und rund 400 Tonnen Fisch zweier Fischzuchten tötete. Im folgenden Winter hatte das Kraftwerk ohne eigene Stromerzeugung zudem massive Probleme mit der Vereisung der Überläufe der Staumauer, die normalerweise elektrisch beheizt werden. Im folgenden Februar konnte zunächst die weitestgehend unbeschädigt gebliebene Turbine sechs wieder angefahren werden; es folgten Turbine Fünf am 22. März 2010 und Turbine Vier am 4. August. Die Beseitigung aller Beschädigungen und der Ersatz der zerstörten Maschinen erstreckte sich über mehrere Jahre. Am 12. November 2014 ging mit Anfahren von Turbine Zwei das letzte der bei dem Unfall völlig zerstörten Aggregate wieder an Netz.