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Gazprom-City an der Neva

Ein neuer Büroturm besetzt in Europa den Rang des höchsten Gebäudes: der Lakhta Tower. Als Star des gleichnamigen Gesamtkomplexes Lakhta Center dominiert er schon jetzt den Himmel über Sankt Petersburg

Sankt Petersburg sieht in diesen Tagen am Anfang des Jahres 2018 der Fertigstellung gleich zweier Großbauten von Weltrang entgegen. Nicht nur der pompöse Neubau der Piter Arena biegt auf die Zielgerade ein, auch der zweite Mega-Bau der früheren russischen Hauptstadt, das in Sichtweite des Fußballtempels auf der gegenüberliegenden Seite der Newamündung nahezu zeitgleich entstandene Lakhta Center steht kurz vor der Vollendung. Ein riesiger Komplex mit rund 400.000 Quadratmetern Nutzfläche, der wissenschaftliche, Bildungs-, Sport- und Freizeiteinrichtungen ein Kongresscenter und ein großes Open-Air-Amphitheater umfassen und in seinem mächtigen, alles andere überragenden Büroturm den Verwaltungssitz des russischen Energie-Riesen Gazprom beherbergt.
Entworfen vom britischen Architekturbüro RMJM steht dieser Lakhta Tower allein für etwa 183.000 Quadratmeter der insgesamt 330.000 Quadratmeter Nutzfläche des Gesamtkomplexes und streckt sich mit seinen 86 Stockwerken zudem 462 Meter weit in den Himmel. Das ist zumindest in Europa neuer Höhenrekord! Neben den überwiegend Gazprom vorbehaltenen Büroflächen gibt es im Lakhta Tower allerdings auch öffentliche Bereiche, wie etwa eine Aussichtsplattform auf 357 Metern Höhe und ein darüber liegendes zweistöckiges Restaurant, beides mit 360-Grad-Panoramablick.

Eine buchstäblich bewegte Vorgeschichte

Ursprünglich geplant war der Komplex allerdings an anderer Stelle. Unter dem Namen Okhta Center sollte der enorme Baukörper zunächst direkt am Rande der Altstadt genau gegenüber dem altehrwürdigen Smolny-Kloster errichtet werden, dort, wo das Flüsschen Okhta in die Newa mündet. So zumindest hatten das, obwohl an dieser Stelle ein Bauverbot für Gebäude jenseits der Grenzmarke von 42 Metern Höhe gilt, die Konzernleitung und der Sankt Petersburger Bürgermeister bereits 2006 ausgekungelt. Das allerdings hatte nicht nur dazu geführt, dass zahlreiche Sankt Petersburger auf die Barrikaden gingen, sondern auch einen Rückzieher mehrerer internationaler Stararchitekten wie Norman Foster, Rafael Viñoly und Kisho Kurokawa zur Folge, die sich zunächst für eine Teilnahme am Wettbewerb für das Projekt beworben hatten.
Schließlich riefen die Pläne für das Okhta Center auch die UNO auf den Plan, die am Ende damit drohte, dem einzigartigen Altstadtensemble den erst 1990 erlangten Status als Unesco-Weltkulturerbe wieder abzuerkennen. 2010 wurde schließlich beschlossen, die neue Gazprom-Zentrale an anderer Stelle in einer Entfernung von immerhin 9 Kilometern vom Stadtzentrum am Stadtrand Sankt Petersburgs direkt am Finnischen Meerbusen hochzuziehen. Das erwies sich letztlich allein wegen der spektakulären Aussicht über die Ostsee als die bessere Wahl. Überdies war es so möglich, durch einen eigens errichteten Bootsanleger den Konzernbossen die Anreise mit ihrer Privatyacht zu ermöglichen.
Dennoch musste das ins Auge gefasste Areal angesichts der Lage direkt an der Ostsee und vor allem eingedenk der geplanten Bebauung zunächst einer geodätischen Untersuchung und einer aufwändigen Bodenanalyse unterzogen werden. Auch das architektonische Konzept wurde überarbeitet. Während das für eine öffentliche Nutzung vorgesehene, multifunktionale Gebäude völlig neu konstruiert wurde, hielt der Bauherr an den Plänen für den Büroturm weitgehend fest. Die fünfeckige Grundform des spindelförmigen, in sich verdrehten Turms hatten die Architekten von der im frühen 14. Jahr­hundert am ursprünglich geplanten Standort errichteten schwedischen Landskrona-Festung abgeleitet, die, ebenso wie die an gleicher Stelle im 18. Jahrhundert erbaute Festung Nyenschanz, die Form eines fünfstrahligen Sterns aufwies.
Nach den positiven Ergebnissen der Bodenanalysen konnten 2012 die ersten Arbeiten beginnen. Zunächst wurde eine Spundwand um das Areal gezogen und anschließend der Boden eingeebnet. Da der Bau in technischer Hinsicht jedoch überaus anspruchsvoll ist, musste die Bauherrin, insbesondere bei der Planung der Gründungsarbeiten, auf das Know-how westlicher Spezialisten zurückgreifen. Den Zuschlag für ihre Ausführung hatte sich schon 2008 das Unternehmen Arabtec gesichert, das sich bereits mit den Vorarbeiten zur Errichtung des Burj Khalifa in Dubai einen Namen gemacht hatte.

Bauen von oben nach unten

Arabtec rückte schließlich mit einem Großaufgebot von rund 3000 Mitarbeitern an und mietete bei den russischen Vertriebspartnern der einschlägigen Baumaschinenhersteller einen beachtlichen Maschinenpark. Immerhin war für die Gründungsarbeiten die Herstellung von insgesamt 1112 Bohrpfählen nötig, wovon allein 264 besonders eng stehende Pfähle auf das Fundament des Lakhta Towers entfielen. Die Bohrungen für diese Pfähle mit einem Durchmesser von 2 Metern mussten jeweils 82 Meter tief ins Erdreich getrieben werden. Hierbei warteten auf das Arabtec-Team in größeren Tiefen einige böse Überraschungen: Größere Moränen­ablagerungen und zum Teil sogar große Felsbrocken stellten sich den verwendeten Erdbohrern in den Weg. Ihre Durchdringung erforderte den Einsatz spezieller Bohrköpfe und besonderer Laufgehäuse.
Ähnliche Probleme traten auch bei der im Frühjahr 2013 begonnenen Ausschachtung für die Schlitzwand auf, die das gesamte Fundament des Towers umschließt. Derartige Schlitzwände sind für die Absicherung tief in den Boden reichender Bauwerke und Fundamente gegen eindringendes Grundwasser unerlässlich. Wie der Name sagt, entstehen sie durch Ausbaggern eines in diesem Fall 30 Meter tiefen und etwa 1,20 Meter breiten Grabens, der wie ein tiefer, hier fünfeckiger Schlitz das Gelände rund um den künftigen Standort des Turms durchzieht. Um während des Aushubs ein Einbrechen der Grabenwände zu vermeiden, muss dieser Schlitz mit Bentonit gefüllt werden, einer Substanz mit ganz speziellen hydraulischen Eigenschaften. Erreicht die beim Ausschachten erforderliche Spezialschaufel die Solltiefe, wird eine überaus dichte Armierung in den Graben abgesenkt und dieser anschließend von unten her fortschreitend mit Spezialbeton gefüllt. Die Aufgabe der sonst beim Betonieren unverzichtbaren Schalung übernimmt bei diesem Verfahren der umgebende Boden.
Beginnt man anschließend, den von einer so entstandene Schlitzwand umschlossenen Boden auszubaggern, entsteht durch das Gelände außerhalb der Wand ein immenser Druck. Gegen diesen Geländedruck wird eine solche Wand im Normalfall durch zahllose, weit ins umgebende Gelände gebohrte Horizontalanker gesichert. Das allerdings war hier am Ufer der Ostsee nicht möglich, denn der hier abgelagerte Schlick hätte Ankern kaum ausreichenden Halt gegeben. Ergo musste die Wand von innen her abgestützt werden.
Diese Notwendigkeit führte zu einem an sich paradoxen Vorgehen: Die wie Geschossdecken horizontal gelagerten Stützwände mussten auf dem normalen Geländeniveau beginnend, Ebene für Ebene nach unten fortschreitend betoniert werden. Jede Ebene wurde dabei jeweils unter Nutzung des Bodenplanums als Schalungsersatz betoniert, anschließend der Boden unterhalb der Decke einige Meter tief ausgebaggert und ein neues Planum geschaffen, was dann wiederum als „Bodenschalung“ für die Betonierung der nächsten Ebene genutzt wurde. Dass diese Stützebenen beim Ausbaggern des unter ihnen befindlichen Bodens nicht einstürzen, verhindert ihre Aufhängung an dafür vorgesehenen Konsolen der anfangs bei der Herstellung der Bohrpfähle mit einbetonierten Stahlträger.
Insgesamt vier solcher Ebenen mussten geschaffen werden, bis schließlich das Niveau für die Herstellung der eigentlichen Bodenplatte erreicht wurde. Ende März 2015 war es so weit: Die spektakuläre Betonierung der Bodenplatte konnte beginnen. 19.624 Kubikmeter Beton wurden in einer rund 48-stündigen Aktion zu einer äußerst massiven Bodenplatte vergossen. Die Aktion wurde sogar im Guiness-Buch der Rekorde verzeichnet. Unmittelbar darauf begannen auf dieser Basis die Schalungsarbeiten zur Herstellung des massiven Gebäudekerns. Er beherbergt sämtliche Aufzüge und Treppenhäuser, Abfall- und Versorgungsschächte sowie Toiletten und Serviceräume. Im Herbst des Jahres hatte der Kern das Null-Niveau des Geländes erreicht, sodass im Laufe einer zweiten aufwändigen Betonierung die 2 Meter starke obere Bodenplatte hergestellt werden konnte.

In die Höhe geschraubt

Ihre Fertigstellung markiert den Zeitpunkt, an dem der türkische Generalunternehmer Renaissance Construction mit dem eigentlichen Hochbau beginnen konnte. Auch hier kam, bedingt durch die komplexe, in sich verdrehte Gestalt des Gebäudes, ein ganz spezielles Verfahren zum Einsatz. Im Prinzip handelt es sich dabei um die Kombination eines rein auf Beton und eines auf Stahl basierenden Hochbaus: Um einen massiven, im Falle des Lakhta Towers runden Betonkern gruppiert sich eine Stockwerk für Stockwerk um einige Grad verdrehte Stahlkonstruktion, die jeweils die gesamte Grundfläche eines Stockwerks trägt und sich an ihren Eckpunkten zusätzlich auf insgesamt 10 helixförmige, nach oben verlaufende Stahlträger abstützt. Nur so ließ sich die mit jeder Etage fortschreitende Verformung der Grundrisse bewerkstelligen. Dieses Verfahren kam bereits bei dem ebenfalls von RMJM entworfenen Capital Gate in Abu Dhabi zum Einsatz.
Obwohl so ein Großteil der zur Gebäudespitze hin voranschreitenden Verformungen durch den Stahlbau abgefangen werden konnten, war es dennoch nötig, die zur Aufnahme der jeweiligen Stahlträger vorgesehenen Öffnungen im Betonkern um den jeweils gleichen Winkel zu verschieben, in dem sich auch der Grundriss weiterdreht. Das erforderte eine Spezialkonstruktion für die vom Spezialisten Peri gelieferte Kletterschalung, die es ermöglichte, mit jedem Schritt nach oben auch eine seitliche Verdrehung der Schalung zu realisieren.
Als große Herausforderung bei der Konstruktion des Towers erwies sich auch die Beherrschung der bei den hier üblichen, extremen Wetterbedingungen unvermeidbaren Materialspannungen. Gerade bei der Kombination eisiger Außentemperaturen und direkter Sonneneinstrahlung ergeben sich zwischen von der Sonne beschienenen und verschatteten Bereichen Temperaturdifferenzen von weit über 10 Grad. Das erforderte eine großzügige Verwendung von Dehnungsfugen und insbesondere eine durchdachte Ausführung der aus zwei Ebenen bestehenden Glasfassade. Durch ihre enorme Wärmedämmung schützt sie nach Fertigstellung des Towers die Konstruktion vor allzu großen Temperaturdifferenzen. Hierfür gewann man den deutschen Spezialisten Josef Gartner, der seit Mitte letzten Jahres für kontinuierlichen Nachschub bei der Montage der insgesamt 72.500 Quadratmeter großen Glasfläche sorgt.

Die Glanzpunkte des Baus

Auch darüber hinaus wird das künftig höchste Gebäude Europas mit zahlreichen weiteren technisch beachtlichen Highlights glänzen. An erster Stelle ist hier vor allem der Einsatz von insgesamt 34 Aufzügen für den möglichst effektiven vertikalen Verkehr im Gebäude zu nennen.
Außerdem soll hier ein hochmodernes HI-FOG-Brandschutzsystem installiert werden, das bei Temperaturen oberhalb von 57 Grad Celsius anspringt und einen hochfeinen Wassernebel versprüht. Sowohl manuell als auch ferngesteuert auslösbare Vorhänge aus fließendem Wasser sollen im Notfall zudem das Übergreifen von Bränden von einem Bereich auf den nächsten wirkungsvoll unterbinden.
Den hier in aller Regel sehr harten Wintern geschuldet ist überdies eine für die oberen Stockwerke geplante Beheizung der Glasfassade, die sowohl eine Einschränkung der Sicht als auch eine zusätzliche gewichtsmäßige Belastung der Glasflächen durch Eisbildung verhindern soll.
Auch der Einsatz zahlreicher grüner Technologien ist beim Lakhta Tower vorgesehen. So soll explizit etwa die Abwärme von Aufzugsantrieben, Servern und anderen technischen Einrichtungen in das Heizsystem einbezogen werden, neuartige drucksensible Bodenplatten werden durch das Gewicht der darüber hinweggehenden Mitarbeiter zusätzliche elektrische Energie erzeugen, die unterstützend bei der Beleuchtung eingesetzt werden soll, und ein auf dem Gelände eingebauter, rund 1.000 Kubikmeter großer Eisspeicher wird ebenfalls zur Unterstützung der Heizanlage oder auch zur Kühlung des Gebäudes herangezogen. In Summe sollen diese neuen Technologien, verglichen mit konventionell konzipierten Gebäuden dieser Größe, eine Energieeinsparung von 40 Prozent reali­sieren.

Machtdemonstration mit Schönheitsfehlern

Insofern dient der höchste Büroturm Europas als ein Musterbeispiel für modernen Hochhausbau. Gazprom legt sich mit dem neuen Verwaltungssitz eine lupenrein grüne Weste zu und liefert mit diesem spektakulären Bauwerk und seiner nicht minder spektakulären Lage zugleich eine physische Präsentation seiner Macht.
Doch diese Macht bröckelt. Dem Gasriesen sind im eigenen Land in jüngster Zeit mehrere ernst zu nehmende Konkurrenten erwachsen. Da wäre zum einen Rosneft, der unangefochten größte Ölkonzern des Landes, der inzwischen auch zweitgrößter Erdgasförderer Russlands ist. Zudem drängt die Nummer zwei bei der Ölförderung, Lukoil, die russische Regierung zu einer Liberalisierung des Gasmarktes. Und da es gleichzeitig galt, milliardenschwere Infrastrukturprojekte wie die Jahrhundertpipeline nach China oder den Ausbau der Ostseepipeline Nord-Stream-2 zu stemmen, fragte sich mancher Insider, ob es klug war, die immensen Kosten des Lakhta Centers auf sich zu nehmen. Immerhin veranschlagt eine Schätzung aus dem Jahre 2014 für den Gesamtkomplex Kosten in Höhe von umgerechnet 2 Milliarden US-Dollar.