Mega-Damm am Blauen Nil

Das ostafrikanische Land Äthiopien setzt alles daran, seine Wirtschaft zu entwickeln. Haupthindernis dabei ist der Energiemangel. Der Grand Äthiopian Renaissance Dam, ein Kraftwerksriese, der alles andere auf dem Kontinent in den Schatten stellen wird, soll das ändern

thiopien haben die wenigsten auf dem Radar, wenn die Rede von afrikanischen Ländern mit guten wirtschaftlichen Aussichten ist. Dabei wächst die Wirtschaft des Landes seit 2005 jedes Jahr um durchschnittlich zehn Prozent. Als zunehmendes Hindernis für die weitere Entwicklung erwies sich in den letzten Jahren aber immer mehr die unzureichende Energieversorgung. Bis vor kurzem reichte die installierte Kraftwerksleistung des Landes zur Versorgung von gerade einmal zehn Prozent der äthiopischen Bevölkerung. Dabei verfügt das Land Schätzungen zufolge über Wasserkraftressourcen für die Installation von bis zu 45.000 Megawatt Kraftwerksleistung.

Aus diesem Grund setzte Präsident Meles Zenawi 2011 einen gewagten Plan in Gang und legte den Grundstein für ein gewaltiges Kraftwerk, das die Kraft der mit Abstand stärksten dieser potentiellen Wasserkraftressourcen nutzen sollte – der Wassermassen des Blauen Nils. Gewagt war der Plan vor allem, weil einem Land in Afrika noch in kolonialer Zeit ein Vetorecht hinsichtlich aller Pläne zugestanden worden war, welche seine Wasserversorgung betreffen: Ägypten. So nutzte Zenawi die Gunst der Stunde und begann mit den Bauarbeiten just zu einem Zeitpunkt, da der arabische Frühling auch Ägypten erfasst hatte und das Land vor allem mit sich selbst beschäftigt war.
Doch was hatte die äthiopische Regierung da im Sinn? Das etwas pathetisch Grand Ethiopian Renaissance Dam (Große Talsperre der äthiopischen Wiedergeburt) genannte Bauwerk würde ein wahrer Kraftwerksriese werden, der sich 40 Kilometer östlich der sudanesischen Grenze in der abgelegenen west-äthiopischen Region Benishangul-Gumuz dem Blauen Nil in den Weg stellt.

Seine Staumauer sollte sich 145 Meter über den Grund des Stroms erheben und mit einer Länge von 1780 Metern das Tal versperren. Der enstehende Stausee würde ein Wasservolumen von 66 Milliarden Kubikmetern erreichen und auf eine Wasseroberfläche von 1680 Quadratkilometern kommen. Um die Wassermassen an der Westflanke des Stausees daran zu hindern, sich in das Nachbartal zu ergießen, würde an dieser Stelle zudem die Aufschüttung eines 45 Meter hohen und beachtliche 5,2 Kilometer langen Damms erforderlich.
Die Eignung des Geländes für den Bau eines solchen Staudamms war schon lange bekannt. Das United States Bureau of Reclamation hatte sie bei einer ganzen Reihe in den Jahren 1956 bis 1964 erfolgter Studien zum Nil identifiziert. In den Jahren 2009 und 2010 wurde daraus im Auftrag der äthiopischen Regierung ein konkreter Plan. 15 gewaltige Turbinen mit einer Leistung von 350 Megawatt würden, zu beiden Seiten der Staumauer positioniert, über 16.000 Gigawattstunden elektrischer Leistung pro Jahr erzeugen

Revision der Pläne

Der Plan des zwischenzeitlich verstorbenen äthiopischen Premierministers Zenawi, den Dammbau gewissermaßen an den auch in Ägypten wütenden Tumulten des arabischen Frühlings vorbeizumogeln, konnte unterdessen auf längere Sicht nicht aufgehen. Zu existenziell ist für das Land im Nordosten Afrikas die Frage einer hinlänglichen Wasserversorgung. Immerhin gibt es dort kaum Niederschläge und so besteht das Staatsgebiet zu 90 Prozent aus Wüste. Praktisch einzige Trinkwasserquelle ist der Nil, der damit die Lebensgrundlage für ein 90-Millionen-Volk bildet. Kein wunder also, dass bei der ägyptischen Regierung, nachdem sich die politischen Verhältnisse in ihrem Land einigermaßen geklärt hatten, der geplante Staudammbau ganz oben auf der Agenda rangierte. Ihre Befürchtung, Äthiopien könnte ihnen mit einem derart gigantischen Bauwerk buchstäblich das Wasser abgraben, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Zumindest insofern nicht, als in diesem Land das Quellgebiet des Blauen Nils zu verorten ist, der 85 Prozent zum jährlichen Gesamtvolumen von 84 Milliarden Kubikmetern Wasser beisteuert, das über den Nil den Lake Nasser erreicht, den Stausee des Assuan-Staudamms.

Den Beteuerungen der äthiopischen Regierung, man wolle den Nachbarn im Norden auf keinen Fall schaden, mochten weder die Machthaber in Ägypten noch jene aus dem ebenfalls von einer etwaigen Wasserknappheit betroffenen Sudan ohne Weiteres Glauben schenken. So trommelte man ein mehrheitlich von Vertretern Ägyptens, des Sudans und Äthiopiens gebildetes Gremium ausgewiesener Experten zusammen, um dem vom Generalunternehmer Salini Costruttori erstellten Konzept des Grand Ethiopian Renaissance Dams hinsichtlich der Wasserversorgung sowie auch der generellen Umweltverträglichkeit genauer auf den Zahn zu fühlen. Schnell kristallisierten sich dabei allerdings zwei zentrale Fragen heraus, die bis dahin keine größere Beachtung gefunden hatten: Wie würde sich die Konstruktion gegenüber Flutereignissen welchen Ausmaßes verhalten und inwiefern könnte die Gefahr bestehen, dass das Bauwerk im schlimmsten Falle mitsamt der oberen schieferähnlichen Gneisschichten , auf denen es errichtet wurde, von den gewaltigen Wassermassen vor sich hergeschoben wird?

In der Tat führten die so gewonnenen Erkenntnisse zu einer ganzen Reihe von Modifikationen des ursprünglichen Entwurfs. So wurde etwa der am nördlichen Ende des seitlichen Satteldamms vorgesehene Notüberlauf um ein Viertel auf nunmehr 1200 Meter Breite vergrößert. Außerdem kam man zu dem Schluss, dass die statischen Berechnungen nur auf der Annahme einer weitestgehend homogenen Untergrundstruktur fußten, die so aber nicht ohne Weiteres vorauszusetzen und der ermittelte Sicherheitsfaktor daher als nicht optimal einzustufen sei. In der Konsequenz bedeutete dies, dass man sich tiefer in den Fels vorarbeiten und ein weitaus höheres Betonvolumen für die Herstellung des Sperrbauwerks in Ansatz bringen musste.

Zugleich wurde das Projekt in der Folge hochskaliert. Das Volumen des entstehenden Stausees wuchs von den bisher geplanten 66 Millionen Kubikmetern auf 74 Milliarden Kubikmeter, mit der Konsequenz, dass der entstehende, rund 250 Kilometer lange Stausee sich nunmehr auf eine Fläche von 1874 Quadratkilometern ausdehnen würde. Folgerichtig war es zudem unabdingbar, die Sperrbauwerke anzupassen. Die Höhe des an der Westflanke des Stausees vorgesehenen Steinschüttdamms musste auf 50 Meter aufgestockt werden, für die Talsperre selbst wurde eine neue Höhe von 155 Metern gefordert. Die von der italienischen Salini Costruttori angegebene Höhe des Bauwerks von 170 Metern ergibt sich unterdessen aus der Position der Ausströmkanäle der beiden Maschinenhäuser, die weit unterhalb des Flussbetts liegen wird.

Prioritäten der Dimensionierung

Neben der auf die Revision der Pläne zurückgehenden Vergrößerung des Stauvolumens und der sich daraus zwangsläufig ergebenden Skalierung der Schlüsselkomponenten des Bauwerks erfolgte auch eine Anpassung der elektrischen Leistungsparameter. Statt der ursprünglichen 15 Francis-Turbinen sollten nun 16 dieser darüber hinaus auf 375 Megawatt leistungsgesteigerten Aggregate zur Stromerzeugung herangezogen werden. Dank eines Upgrades des Herstellers Alstom erfuhren sie kurze Zeit später sogar eine Leistungssteigerung auf 400 Megawatt, von der allerdings die ersten beiden zu diesem Zeitpunkt bereits in der Produktion befindlichen Aggregate nicht mehr profitieren. Insgesamt wird das Kraftwerk somit über eine Maximalleistung von 6350 Megawatt verfügen, die bei Wasserständen zwischen 83 und 133 Metern (von der Flusssohle aus gemessen) erzeugt werden kann. Ein wahrer Kraftwerksriese also, der auf dem schwarzen Kontinent seinesgleichen suchen und selbst im weltweiten Ranking zur Top Ten der leistungsstärksten Kraftwerke zählen wird.
Allerdings sind die Niederschläge in Äthiopien nicht nur in der Regensaison starken Schwankungen unterworfen. So liegt das für die Energieerzeugung nutzbare Durchflussvolumen des Nils an dieser Stelle bei nur 1547 Kubikmetern in der Sekunde, was GERDs Gesamtstromproduktion per annum auf lediglich 16.153 Gigawattstunden begrenzt. Das riesige Kraftwerk kommt insofern im Jahresschnitt auf einen Nutzungsfaktor von gerade einmal 28,6 Prozent. Die geschilderte Skalierung der Anlage sorgte sogar für eine Verschlechterung des ursprünglich auf 32,9 Prozent geschätzten Faktors. Ist GERD damit, wie einige Kritiker behaupten, völlig überdimensioniert? Diese Einschätzung könnte sich als zu vorschnell erweisen.

So erreichen die in Äthiopien im Verlauf des Omo gelegenen, deutlich kleineren Wasserkraftwerke Gibe I und II zwar jeweils deutlich höhere Faktoren, sind in der letzten Dürreperiode 2015/16 aber so weit leergelaufen, dass eine Stromproduktion nicht mehr möglich war. Lediglich das gerade fertiggestellte dritte Kraftwerk im Verlauf des Omo, Gilgel Gibe III, war noch in der Lage, Strom zu produzieren und konnte so die äthiopische Wirtschaft vor dem Stillstand bewahren. Genau ein solches Szenario hatte bei der Überarbeitung der Pläne des Grand Ethiopian Renaissance Dam eine stärkere Berücksichtigung gefunden. Das aufgestaute gigantische Wasserreservoir würde es nämlich gestatten, so die Überlegung, selbst bei Maximalauslastung des Kraftwerks notfalls monatelang die Produktion aufrecht zu halten. Der Anlage wird damit die Rolle des stabilisierenden Rückgrats des nationalen Stromnetzes zuge­wiesen.

Durch die bei der angesprochenen Dürreperiode eingetretene Situation bestätigt fühlen dürfen sich die Ingenieure auch im Hinblick auf ihren Plan, zwei der riesigen Turbinen bereits weit vor der endgültigen Fertigstellung des Kraftwerks in Betrieb zu nehmen. Daher sind die ihnen zugedachten Einströmrohre deutlich tiefer angesetzt und ermöglichen dadurch eine Inbetriebnahme der Aggregate bereits ab einem Pegelstand von 53 Metern über Grund, wenn der See gerade einmal ein Volumen von 5,5 Millionen Kubikmetern erreicht hat. Sie dürften auf Jahre hinaus die einzigen Aggregate sein, die zur Stromerzeugung herangezogen werden können. Die Äthiopier können den Stausee nämlich nur langsam volllaufen lassen. Bei einem jährlichen Zuflussvolumen von 48,8 Milliarden Kubikmetern würde es selbst bei voller Abriegelung des Sperrbauwerks mehr als eineinhalb Jahre dauern, bis der maximale Füllstand des Stausees von 74 Millionen Kubikmetern erreicht ist.

Nutzungsrechte der Nilanrainer

Genau das wäre unterdessen nicht nur für die beiden stromabwärts gelegenen Länder Sudan und Ägypten, sondern auch für die gesamte vom Nilwasser abhängige Natur der Super-GAU. Das Flussbett würde komplett austrocknen, sämtliche Fische sowie nahezu alle Wildtiere aussterben und – ein nicht zu vernachlässigender Faktor – die Landwirtschaft in diesen beiden Ländern zum Erliegen kommen. Was dagegen eine kontinuierliche Bewässerung bewirken kann, hat nicht zuletzt der Bau des neuen Assuan-Staudamms gezeigt: Seit seinem Bau haben sich die Erträge Ägyptens Landwirtschaft verfünffacht. Ein solch drastisches Vorgehen wie die Abriegelung des gesamten Abflusses des Grand Ethiopian Renaissance Dam allerdings wurde im Quellland des Blauen Nils niemals erwogen. Gegenstand der Diskussion waren und sind vielmehr Zeiträume zwischen 3 und 15 Jahren, in denen das Reservoir aufgefüllt werden soll. Dennoch: Nicht nur von äthiopischer Seite, sondern auch seitens einer ganzen Zahl weiterer Nilanrainer gilt als ausgemacht, dass die derzeitige wassernutzungsrechtliche Situation, die vor allem von ägyptischer Seite immer wieder ins Feld geführt wurde, in der Form langfristig auch keinen Bestand haben kann, weil sie zahlreiche Länder massiv benachteiligt.

Gemeint ist das „Agreement for the Full Utilization of the Nile Waters“ von 1959, gewissermaßen eine Neuauflage des „Nile Waters Agreements“, das 1929 noch während der britischen Kolonialherrschaft geschlossen wurde und Ägypten ein Exklusivrecht auf die Nutzung des Nil-Wassers und ein Vetorecht in allen diesbezüglichen Belangen zuspricht. Die einseitige Bevorzugung in dem auf Druck der Kolonialmacht zustandegekommenen Vertragswerk hatte einen Grund: Großbritannien hatte im 19. Jahrhundert seinen Einfluss auf die Nil-Region kontinuierlich ausgeweitet und in Ägypten eine weitgehend auf den Export von Baumwolle ausgerichtete Landwirtschaft aufgebaut, um die heimische Textilindustrie mit Rohstoffen zu versorgen. Auch an dem Ende der fünfziger Jahre geschlossenen Abkommen war Großbritannien beteiligt. Einzig nennenswerter Unterschied zu dem vorausgegangenen Abkommen ist lediglich der Umstand, dass 1959 das Volumen des in Ägypten ankommenden Nilwassers erstmals quantifiziert und daraufhin auch dem Sudan ein Anteil 18,5 Millionen Kubikmetern zugesprochen wurde, während Ägypten den Zugriff auf den weitaus größeren Teil von 55,5 Milliarden Kubikmetern behielt.

Derart privilegiert, löste die einige Zeit nach Aufnahme der Bauarbeiten an GERD in Ägypten einsetzende Diskussion über das Projekt eine groteske innenpolitische Debatte aus. Speziell nachdem Äthiopiens Informationsminister Bereket Simon herausgestellt hatte, dass auch sein Land ein Anrecht auf eine anteilsmäßige Nutzung des Stroms habe, wurden in Ägypten Stimmen laut, die eine Bombardierung des Bauwerks befürworteten. In dieser Frage verzeichnete die aktuelle Regierung sogar eine Übereinstimmung mit der sonst aufs Schärfste bekämpften Muslimbruderschaft. Dabei war mit der 1999 erfolgten Gründung der „Nile Basin Initiative“, der neben Ägypten und dem Sudan auch Äthiopien, Burundi, die Demokratische Republik Kongo, Ruanda, Tansania, Uganda, Kenia und mittlerweile auch der Südsudan angehören, längst Bewegung in den politischen Dialog über die Nutzung des Nilwassers gekommen.

Was die Situation unterdessen nicht gerade übersichtlicher macht, sind vielfältige zu verzeichnende Aktivitäten, insbesondere der Golf-Staaten wie Katar, der Emirate und Saudi-Arabien sowie auch Israels, die zum Teil massiv in die Landwirtschaft Ostafrikas investieren und im großen Stile Ackerflächen in Ostafrika pachten. Perspektivisch auf die Etablierung von Lebensmittelexporten ausgerichtet, erwächst den Nilanrainern hier neue Konkurrenz um das ohnehin schon knappe Gut. Und die verfügt über sehr viel Geld, das sie in diesem Kontext durchaus auch zum Einsatz bringt. So sind sich etwa viele Experten einig, dass Ägyptens Regierung es bisher nur deshalb vermochte, die Wirtschaftskrise, in der das Land seit 2011 steckt, nicht vollends eskalieren zu lassen, weil Doha und Riad großzügige Kredite gewährten und Anleihen kauften. Die Emirate hingegen sollen vor kurzem speziell der äthiopischen Nationalbank mit einigen Milliarden Euro unter die Arme gegriffen haben, wobei Spekulationen ins Kraut schießen, dass die Ölmonarchie auf diese Weise sicherstellen will, dass Äthiopien seinen Staudamm möglichst langsam auffüllt.

Chancen und Risiken

Diese Frage ist, wie bereits angedeutet, bei GERD von entscheidender Bedeutung. Der ursprüngliche Zeitplan, den Stausee innerhalb von drei Jahren zu füllen, hätte, so viel ist längst klar, eine erhebliche Beeinträchtigung der Wasser- und Stromversorgung von Ägypten und dem Sudan zur Folge. Doch auch bei einer fünfjährigen Füllungsphase würde Ägypten zeitweise ein Volumen von 14 Milliarden Kubikmetern Wasser entgehen. Ein Absinken des durchschnittlichen Wasserstands von 182 Metern im Lake Nasser unter die kritische Marke von 150 Metern, mahnten Experten, würde die Energieproduktion am Assuan-Staudamm zum Erliegen bringen. Andererseits wenden Kenner der Situation ein, dass die Stromproduktion des Damms einen Anteil von nur 12 Prozent von Ägyptens Energieverbrauch deckt. So würde ein Rückgang der dortigen Energieproduktion um 25 Prozent, bezogen auf das ganze Land, ein Minus von kaum mehr als 3 Prozent ergeben. Überhaupt würde, wie Befürworter des Staudamms vorrechnen, eine zugunsten einer allmählichen Füllung des Stausees vorgenommene Drosselung des Durchflussvolumens um 10 bzw. 20 Prozent auf die Wasserversorgung Ägyptens in einer weitaus geringeren Größenordnung von nur noch 6 bzw. 14 Prozent durchschlagen.

Wie kann das sein?

Was im ersten Moment an einen raffinierten Rechentrick denken lässt, findet seine Erklärung in ganz normalen physikalischen bzw. meteorologischen Vorgängen. So summiert sich das einstweilen dem Sudan und Ägypten zugesprochene Volumen nutzbaren Nilwassers zwar auf 74 Milliarden Kubikmeter, doch eigentlich erreicht den Assuan-Damm mit 84 Milliarden Kubikmetern deutlich mehr Wasser. Die fehlenden zehn Milliarden Kubikmeter, mehr als ein Zehntel des gesamten Nilwassers (!), gehen durch Verdunstung verloren. Angesichts der gewaltigen Dimensionen des vom Assuan-Damm aufgestauten Nassersees mit einer Längenausdehnung von rund 500 Kilometern und einer Fläche von 5250 Quadratkilometern allerdings, bei sommerlichen Höchsttemperaturen von z. T. mehr als 40 Grad, wird dieser enorme Aderlass irgendwie verständlich.

Die Fläche des GERD-Reservoires, hält die eben zitierte Rechnung dagegen, liege mit 1874 Quadratkilometern jedoch nicht einmal bei der Hälfte der Fläche des Nassersees, außerdem fiele das Temperaturniveau fast 500 Meter höher auch deutlich moderater aus, so dass hier mit kaum mehr als 3 Prozent Verdunstungsverlusten zu rechnen sei. Würde man ergo den Sollpegel des Nassersees reduzieren und einen Teil seiner Pufferwirkung dem neuen Stausee übertragen, könne man den enormen Verdunstungsverlust deutlich reduzieren. Am Ende hätten die Ägypter sogar mehr Wasser zur Verfügung. Ungeachtet der diesbezüglichen von der äthiopischen Regierung vorgelegten Zahlen haben unabhängige Experten jedenfalls errechnet, dass durch einen sinnvollen Verbundbetrieb des Grand Ethiopian Renaissance Damms und des Assuan-Dams die Verluste um 16 Prozent reduziert werden könnten. Das allerdings würde eine Zusammenarbeit der beiden Hauptbeteiligten Äthiopien und Ägypten erfordern.

Der Assuan-Damm liefert überdies auch eine Orientierung bezüglich des Zeitraums, in welchem man sich das Füllen des GERD-Reservoires vorstellen kann. Nachdem das Sperrbauwerk 1964 fertiggestellt worden war, wurde der Sollpegel das Nassersees erst 1976 erreicht. In Äthiopien würde es, bezogen auf die diskutierte Drosselung des Durchflussvolumens bei GERD realistischerweise zwischen 15 Jahren (bei zehnprozentiger Durchflussreduktion) bzw. 7,5 Jahren (bei zwanzigprozentigem Wasserrückbehalt) bis zum Erreichen des Stauziels dauern.

Baufortschritt auf afrikanisch

Noch kann das Startsignal dafür aber nicht gegeben werden, denn zurzeit liegt der Baufortschritt weit hinter dem ursprünglichen Zeitplan zurück. Zwar hatten die Bauarbeiten 2011 durchaus ambitioniert begonnen. Im Mai 2013, in dem Jahr, in dem die Pläne des Bauwerks grundlegend überarbeitet wurden, hatte man mit der Umleitung des Nils nahezu 32 Prozent des Megaprojekts fertiggestellt. Im Januar 2016 meldete dann Generalunternehmer Salini Costruttori, dass mittlerweile vier der insgesamt zehn Millionen Kubikmeter Beton verbaut seien. Angesichts einer für Ende 2018/Anfang 2019 geplanten Betriebsaufnahme deutete sich damit bereits ein erheblicher Rückstand an. Im Laufe desselben Jahres kamen die Bauarbeiten vorübergehend völlig zum Stillstand. Der mit dem Aufbau und der Installation der elektrischen Anlagen beauftragte Staatsbetrieb Metals and Engi­neering Corpo­ration (Metec) wurde von einem Korruptionsskandal erschüttert. Zahlreiche Metec-Manager wurden ver­haftet und der Auftrag ging an chine­sische Firmen. Inzwischen laufen die Bauarbeiten wieder nach Plan, nur eben zeitlich massiv verzögert. Bis zur Fertigstellung des Bauwerks werden aber noch einige Jahre ins Land gehen. Für viele Bewohner der eigentlich dünn besiedelten Region ist das einstweilen eine gute Nachricht. Immerhin bis zu 20.000 Menschen mussten bzw. müssen hier unterschiedlichen Schätzungen zufolhe umgesiedelt werden. Etwa die Hälfte derjenigen, die in der Überflutungszone lebten, soll inzwischen umgesiedelt sein. Aus den Bauern könnten künftig Fischer werden. Allerdings sind, um der Ausbreitung der Malaria entgegenzuwirken, in einer fünf Kilometer breiten Sicherheitszone um den künftigen Stausee keine Ansiedlungen zugelassen.

Weichenstellung für die Zukunft

Der Bau des Grand Ethiopian Renaissance Dams in Äthiopien ist unterdessen keine singuläre Maßnahme, sondern Teil eines groß angelegten Infrastrukturprojekts. Der Wachstums- und Umbauplan der Regierung für die Jahre 2010 bis 2020 verfügt über ein Budget von 12 Milliarden Euro und sieht neben GERD den Bau weiterer Wasserkraftwerke vor. Fertiggestellt ist inzwischen Gilgel Gibe III, das in etwa 2 Milliarden Euro gekostet hat, seit 2016 im Bau ist zudem das Koysha-Kraftwerk, welches ebenfalls von Salini Costruttori gebaut wird und auf Kosten von 2,5 Milliarden Euro veranschlagt wird. Seine installierte Leistung wird bei 2160 Megawatt liegen und seine Staumauer wird eine Höhe von 170 Metern erreichen. Die neuen Wasserkraftwerke werden die Verfügbarkeit von Elektrizität in dem bislang chronisch unterversorgten Land um ein Vielfaches steigern. Mit dem eingeschlagenen Weg bringt sich Äthiopien somit auf dem Kontinent auch als Exportnation für elektrische Energie in Stellung. Insbsondere die Lieferung von Strom nach Kenia, Dschibuti, Sudan und Ägypten steht auf der Agenda. Weitergehende Pläne haben jedoch selbst die Stromversorgung des Jemen im Visier, für die ein Unterwasserkabel durchs Rote Meer verlegt werden müsste. Zunächst konzentriert sich die äthiopische Regierung allerdings auf die Einspeisung in die Netze der Nachbarländer, für die insgesamt vier 500-Kilovolt-Stromtrassen gebaut werden sollen. So hofft man, jährliche Einnahmen von zwei Milliarden Dollar zu erzielen.

Welche Kraftanstrengung der Bau vor allem des Grand Ethiopian Renaissance Dams für das Land bedeutet wird erst klar, wenn man die enormen Baukosten von bislang geschätzten 4,8 Milliarden US-Dollar in Relation zum äthiopischen Bruttosozialprodukt von 31 Milliarden US-Dollar (2009) setzt. Die Baukosten entsprechen etwa 60 Prozent des gesamten Staatshaushalts. Mit drei Milliarden US-Dollar den weitaus größten Teil schultert das Land zudem aus dem Staatshaushalt. Daher gab Äthiopien in großem Umfange Staatsanleihen heraus und behielt von allen staatlichen Angestellten einen gesamten Monatslohn zur Finanzierung ein.